Date: Wed, 8 Feb 95 18:21:25 +0900
Sender: bauer@icluna.kobe-u.ac.jp (Detlef Bauer)
Leben in Kobe drei Wochen noch dem Beben
(in German)
Life in Kobe three weeks after the quake
In der letzten Woche bin ich die 30 km zu meiner
Arbeitsstelle, der Universitaet Kobe, mit dem
Fahrrad gefahren. Obwohl das Kobe Beben vom 17.01.
1995 'nur' 7,2 auf der Richter-Skala erreichte
und damit ueber eine Stufe unter dem grossen Tokio-
Beben von 1923 liegt, sind die gemessenen Zer-
stoerungskraefte, die bisher staerksten, die man
- seit man Messungen durchfuehrt- festgestellt hat.
Gestern ist offiziell bestaetigt worden, dass die
Zerstoerungen im Kernbereich unter der hoechsten
Rubrik, sieben, der japanischen Erdbebenskala
verbucht werden, was fuer Hilfeempfaenger
weitreichende Folgen haben soll. Die japanische
Skala beschreibt die Auswirkungen und Zerstoerungen
eines Bebens. Bis1948 endete die Skala
bei sechs, und erst nach dem schweren
Beben von Fukui, bei dem damals ueber 3000
Menschen ums Leben kamen, wurde der Wert sieben
eingefuehrt, der nun zum erstenmal Anwendung
findet.
Die Zone der Verwuestung beginnt einige Kilometer
oestlich vom Bezirk Tarumi und zieht sich ueber
30 Kilometer in einem vergleichsweise schmalen
Korridor entlang der Bahnlinen bis Ashiya und
Nishinomiya. Innerhalb dieses Streifens sind
auch mehrgeschossige massive Betonbauten
umgestuerzt, eingebrochen oder schief gestellt
worden; von den vielen alten Haeusern in
japanischem Stil zu schweigen, die zu
Geroellhaufen reduziert wurden, deren Waende
haeufig im Erdgeschoss eingeknickt sind
oder deren erster Stock weggerissen wurde.
Man erkennt Geschaefte, in denen man vor zwei
Monaten eine Kleinigkeit erstanden hat,
als Truemmerhaufen an einer Strassenecke
wieder, und die Zahl von ueber 5000 Todesopfern
verknuepft sich fest mit diesem Anblick.
Der Bahnhof von Rokkomichi im Bezirk Nada,
eine Stahlbetonkonstruktion mit dem Charme
eines Bunkers, ist komplett zertruemmert
worden: die Gleise liefen im ersten Stock,
sie sind heruntergebrochen. Uebriggeblieben
ist ein laenglicher Haufen zerbroeselten Betons,
gespickt mit Stahl.
Auch viele alte Denkmal geschuetzte Haeuser
hat das Beben abgeraeumt. Einige der Touristen-
attraktionen vergangener Tage, die Haeuser, die sich
Auslaender um die Jahrhundertwende in Kobe bauen
liessen, sind schwer beschaedigt oder zerstoert.
Der Eingangsbereich zum 'Ikuta' Schrein, dem
schoensten der Shintoschreine Kobes, ist neiderge-
brochen.
Andere Teile der Stadt wiederum sind
nahezu unversehrt. Oben auf den Hoehen, wo
meistenteils die Reichen wohnen, ist kaum
etwas zu sehen. Ueberhaupt gilt, dass die Natur
es mit den Armen schlecht meint; demokratisch
ist sie nicht. Ueber die Haelfte der Toten sind alte
Menschen, die in alten Buden wohnten, und die
am meisten verwuesteten Viertel sind die, wo die
sozial Schwaecheren, wie man heute wohl sagt,
wohnen.
Nur um die zwei Prozent der hiesigen Bevoel-
kerung hat eine Erdbebenversicherung abgeschlossen,
und deren Vertragspartner werden sich als aeusserst
zahlungsunwillig erweisen. Die Leistungen, die zu
erbringen sein werden, erreichen ungeahnte Hoehen.
Man kann sich vorstellen, was diese Verwuestung fuer
kleine Ladeninhaber und Kleinunternehmer bedeutet.
Die Gummi verarbeitenden Kleinbetriebe in Nagata,
die vor allem Schuhe fuer den Inlandsmarkt produzierten,
sind durch die Feuer, die in diesem Bezirk wueteten,
besonders geschaedigt. Der Containerhafen, der
groesste Japans, ist fast vollstaendig zerstoert.
Der Wiederaufbau wird etwa drei Jahre dauern.
In der Zwischenzeit wird der Handel in Osaka,
Nagoya und Yokohama abgewickelt werden muessen,
und ob Kobe je wieder seine Bedeutung als groesster
japanischer Hafen zurueckgewinnen kann, ist
zweifelhaft.
Von den Studenten der Fakultaet fuer interkulturelle
Studien ist niemand zu Tode gekommen, aber 39
Studenten der Universitaet Kobe sind gestorben;
davon sind sieben Auslaender aus Laendern
Suedostasiens. Hart persoehnlich Betroffene kenne
ich bisher nur eine Familie.
Militaer, Polizei und Baukollonnen beherrschen
das Stadtbild inzwischen. Die Verteilung der
Hilfsgueter funktioniert nicht immer zufrieden-
stellend, aber die groesstenteils freiwilligen
Helfer geben alles, damit die Situation verbessert
wird. Das Leben der Fluechtlinge ist in der
letzten Woche durch sehr niedrige Temperaturen
erschwert worden. Bei Nacht- und Morgen-
temperaturen von unter Null Grad Celsius und
Tagestemperaturen von wenig mehr als sechs
Grad ist ein Leben im Zelt sehr schwierig.
Die private Hilfsbereitschaft ist weiterhin gross,
die offizielle und institutionelle eher bescheiden
zu nennen. Mir will nicht einleuchten, warum
alte Menschen, die von einer Grippewelle geplagt
werden, nicht in Golfheimen, in um diese Jahreszeit
leerstehenden Strandhotels, oder in Ferienheimen
der grossen Firmen untergebracht werden. Aber
vielleicht wollen die meisten auch gar nicht weg
aus dieser Stadt, in der sie ihr Leben bis zum Beben
gelebt haben, wollen viele auch bei den Aufraeum-
arbeiten dabei sein, um vielleicht noch das wenige
zu retten, was brauchbar aus den Truemmerhaufen
auftaucht. Die Wasserversorgung konnte bisher noch
nicht im vollen Umfang wieder hergestellt werden.
Aber bis Mitte/Ende Februar rechnen die Wasserwerker
mit einem Abschluss der Arbeiten. Ueber die Wieder-
herstellung der Gasversorgung ist nichts bekannt.
Alle arbeiten mit ganzer Kraft an der Wiederher-
stellung eines Alltagsgefuehls. Die Freundlichkeit
und Solidaritaet der Bewohner dieser schoenen Stadt
garantieren fuer den Erfolg.